
Der deutsche Mittelstand tastet sich in ein Terrain vor, das Jahrzehnte als politisch heikel und wirtschaftlich unattraktiv galt. Doch seit dem Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine und den geopolitischen Verschiebungen der vergangenen Jahre hat sich die Wahrnehmung grundlegend verändert. Der Bundesverband der deutschen Sicherheits- und Verteidigungsindustrie meldet einen Mitgliederanstieg von 243 auf 440 Unternehmen, zwei Drittel davon Mittelständler. Viele davon stammen aus Maschinenbau und Automobilzulieferung, zwei Branchen, die nach Jahren des Struktur- und Nachfrageumbruchs dringend neue Märkte suchen.
Die Motivation ist selten eindimensional. Auf der einen Seite locken massive Investitionszusagen: Das deutsche Verteidigungsbudget könnte sich bis zum Ende des Jahrzehnts mehr als verdoppeln. Europaweit erwartet die Beratung McKinsey einen Markt, der sich zu einem Volumen von über 300 Milliarden Euro entwickelt. Große Konzerne wie Rheinmetall, KNDS oder Airbus Defence stehen im Mittelpunkt dieser Entwicklung, doch sie reichen bis zu 80 Prozent ihrer Aufträge an Zulieferer weiter. Damit rückt der Mittelstand ins Zentrum einer Wertschöpfungskette, die jahrzehntelang auf wenige traditionelle Anbieter konzentriert war.
Auf der anderen Seite verändert sich die Haltung vieler Unternehmerfamilien. Die sicherheitspolitischen Umbrüche der vergangenen Jahre – vom Angriff auf die Ukraine bis zur Unsicherheit über amerikanische Bündnisgarantien – lassen frühere Prinzipien brüchig erscheinen. Die Frage, ob technische Expertise auch in der Verteidigungsindustrie eingesetzt werden soll, wird in vielen Firmen neu gestellt.
Ein Maschinenbauer aus dem Sauerland steht exemplarisch für diesen Wandel. Das Unternehmen hatte sich in seiner Satzung verpflichtet, nicht für die Rüstungsbranche zu produzieren. Als die Anfrage kam, gemeinsam Maschinen für die Herstellung von Artilleriegranaten zu entwickeln, schien der Fall eindeutig. Doch der Zeitpunkt fiel in eine Phase politischer Erschütterungen. Der Zweifel an der Verlässlichkeit der NATO, verbunden mit der Erkenntnis, dass Freiheit und Sicherheit aktive Entscheidungen verlangen, führte zu einer innerfamiliären Neubewertung. Die Geschäftsführung holte die Belegschaft ins Boot, um Transparenz zu schaffen und Haltung zu erklären. Am Ende stand der Entschluss, die Tabus der Vergangenheit zu überdenken – allerdings unter klaren Leitplanken: ein begrenztes Auftragsvolumen und eine jährliche Neuregelung, um Abhängigkeiten zu vermeiden. Inzwischen ist der Mittelständler Teil der Lieferkette und erhält weitere Anfragen.
Einen anderen Zugang wählt Grüninger Electronics aus Baden-Württemberg. Das Unternehmen ist Spezialist für 3D-gedruckte Leiterplatten, ein Nischenprodukt, das in modernen Fahrzeugen, Fluggeräten und zunehmend in militärischer Elektronik eingesetzt wird. Die geopolitische Abhängigkeit Europas von asiatischen Produktionsstandorten ist seit längerem bekannt, doch erst die sicherheitspolitische Lage hat die Sensibilität für technologische Souveränität geschärft. Grüninger kann Leiterplatten unabhängig von globalen Lieferketten herstellen, reparieren und durch Reverse Engineering rekonstruieren – Fähigkeiten, die in der Verteidigungsindustrie besonders geschätzt werden. Der Weg in die Branche ist allerdings langwierig. Genehmigungen dauern Wochen, Sicherheitsüberprüfungen durch den Militärischen Abschirmdienst oft mehr als ein Jahr. Doch der Unternehmer sieht enormes Potenzial, insbesondere bei der Instandhaltung bestehender Waffensysteme, für die Ersatzteile zunehmend knapp werden.
Wesentlich weiter ist Armoured Car Systems, ein Unternehmen der Gruma-Gruppe aus Bayern. Seit Jahren panzert die Firma Fahrzeuge in Kleinserie, vor allem auf Basis der Mercedes G-Klasse. Dass das Geschäft heute stark wächst, liegt an einem strategischen Entschluss, der bereits 2019 gefasst wurde: die Entwicklung eines eigenen modularen Fahrzeugs, komplett finanziert aus Eigenmitteln. Damals war der Markt skeptisch, politisch unerwünscht und regulatorisch schwer einzuordnen. Eine Versicherung drohte sogar, den gesamten Konzern zu kündigen, weil militärische Aktivitäten als nicht nachhaltig galten. Erst mit der Zeitenwende nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine kippte die Haltung. Die Branche erhielt politische Rückendeckung, Versicherer änderten ihre Kriterien, und die Nachfrage stieg rasant. Für ACS zahlen sich frühe Investitionen aus.
Diese Beispiele zeigen, wie unterschiedlich der Mittelstand auf denselben Impuls reagiert. Während manche Unternehmen moralische und strategische Grundsätze neu ausrichten, nutzen andere technologische Lücken oder setzen auf unternehmerische Weitsicht. Gemeinsam ist ihnen die Erfahrung, dass der Einstieg in die Verteidigungsindustrie hohe Anforderungen stellt: lange Zertifizierungen, strenge Sicherheitsvorschriften, unvorhersehbare Auftragsschwankungen und erhebliche Kapitalbedarfe. Selbst nach politischen Kurswechseln bleibt die Finanzierung vieler Projekte schwierig, weil Banken ihre internen Regeln nur zögerlich anpassen.
Der Mittelstand ist damit längst ein bedeutender Teil der sicherheitsrelevanten Wertschöpfung geworden, aber der Weg ist nicht risikolos. Die Branche verspricht Wachstum, doch sie verlangt Geduld, Kapital und Klarheit über die eigene Rolle. Der sicherheitspolitische Druck führt dazu, dass immer mehr Unternehmen diesen Weg prüfen. Wie nachhaltig dieser Trend ist, wird sich erst zeigen, wenn die ersten großen Modernisierungswellen der Bundeswehr durchlaufen sind und die europäische Verteidigungsindustrie ihre neuen Kapazitäten dauerhaft auslasten muss.