Der Ankereffekt beschreibt die Tendenz, dass Menschen ihre Entscheidungen und Urteile an einem bestimmten Referenzwert, dem „Anker“, orientieren, selbst wenn dieser Anker völlig irrelevant oder willkürlich ist. Ursprünglich wurde der Begriff von den Psychologen Amos Tversky und Daniel Kahneman geprägt, die dieses Phänomen erstmals in den 1970er Jahren untersuchten. Sie fanden heraus, dass Menschen bei der Schätzung von Zahlen, Mengen oder Wahrscheinlichkeiten von einer Ausgangszahl oder einem Anfangswert beeinflusst werden, selbst wenn dieser in keiner Weise mit der tatsächlichen Situation in Verbindung steht.
Ein einfaches Beispiel für den Ankereffekt ist die Frage nach dem Preis eines Produkts. Wird einem Käufer ein hoher Preis zuerst genannt, wird der Käufer diesen als Referenzwert (Anker) nehmen, um zu beurteilen, ob ein Preis „günstig“ oder „teuer“ ist, selbst wenn der zweite Preis völlig unabhängig von diesem ersten Angebot ist.
Der Ankereffekt in der Unternehmenswelt
In der Unternehmenswelt ist der Ankereffekt allgegenwärtig und hat tiefgreifende Auswirkungen auf die Entscheidungsfindung. Insbesondere in den Bereichen Preisgestaltung, Verhandlung, Marketing und Personalentscheidungen spielen Anker eine entscheidende Rolle. Im Folgenden werden verschiedene Aspekte des Ankereffekts im Unternehmenskontext beleuchtet.
Preisgestaltung und Marketing
Ein offensichtliches Beispiel für den Ankereffekt im Unternehmenskontext ist die Preisgestaltung. Unternehmen setzen gezielt Ankerpreise, um die Wahrnehmung der Kunden zu beeinflussen und deren Kaufentscheidungen zu steuern. In vielen Fällen sehen Kunden zuerst einen höheren Preis, der dann durch Rabatte oder Sonderangebote „reduziert“ wird. Der ursprüngliche Preis dient als Anker. Dadurch wirkt der rabattierte Preis im Vergleich attraktiver. Das, obwohl der tatsächliche Wert des Produkts nicht proportional zum Rabatt ist.
Ein weiteres Beispiel ist die Preisgestaltung in Auktionshäusern. Hier wird häufig ein hoher Startpreis angesetzt, um den Preis zu steigern. Käufer orientieren sich an diesem Anfangspreis und neigen dazu, das Gebot höher zu setzen, als sie es ohne diesen Anker tun würden.
Verhandlungen und Gehaltsverhandlungen
In Verhandlungen, sei es im Vertrieb, bei Fusionen und Übernahmen oder in Gehaltsgesprächen, spielt der Ankereffekt eine zentrale Rolle. Der erste Preis oder das erste Angebot, das in einer Verhandlung genannt wird, setzt den Anker und beeinflusst die gesamte Verhandlungsdynamik.
Ein Unternehmen, das ein erstes Angebot unterbreitet, setzt damit den Anker, an dem sich die Verhandlungspartner orientieren. Auch wenn dieses erste Angebot weit von der tatsächlichen Preisvorstellung des Unternehmens entfernt ist, beeinflusst es das weitere Gespräch und die finalen Konditionen. Ein niedrigerer Einstiegspreis kann zu einem günstigeren Abschluss für das Unternehmen führen, während ein höherer Einstiegspreis dazu führen kann, dass Verhandlungspartner das Angebot als „fair“ oder „akzeptabel“ wahrnehmen.
In Gehaltsverhandlungen wird ebenfalls häufig der Ankereffekt genutzt. Ein Unternehmen, das einen niedrigen Gehaltsvorschlag macht, setzt einen Anker, der die zukünftigen Verhandlungen beeinflusst. Arbeitnehmer und Personalabteilungen müssen sich bewusst sein, dass der erste Vorschlag maßgeblich die Wahrnehmung und Erwartungen beeinflusst.
Personalentscheidungen und Rekrutierung
Der Ankereffekt ist auch in der Personalpolitik und Rekrutierung von Bedeutung. Wenn ein Unternehmen Bewerbern ein anfängliches Gehaltsangebot macht, fungiert dieses als Anker, der die zukünftige Diskussion prägt. Studien zeigen, dass die Höhe des ersten Gehaltsangebots die Vorstellung der Bewerber darüber beeinflusst, was ein „fairer“ Lohn für die jeweilige Position ist. Ein höheres Angebot als erster Anker kann dazu führen, dass der Bewerber den Job insgesamt als attraktiver wahrnimmt, auch wenn spätere Verhandlungen zu geringeren Konditionen führen.
Auch bei Beförderungen und der Festlegung von Bonuszahlungen kann der Ankereffekt eine Rolle spielen. Ein hoher Bonus, der einmal angeboten wurde, setzt einen Referenzwert für zukünftige Boni, der den Erwartungen der Mitarbeiter entspricht und möglicherweise die Unternehmenskultur und das Engagement beeinflusst.
Entscheidungen im Management und strategische Planung
Der Ankereffekt kann auch auf der Ebene des Managements und der strategischen Planung erhebliche Auswirkungen haben. Unternehmensentscheidungen, die auf früheren Erfolgen oder Misserfolgen basieren, können die zukünftige Unternehmensstrategie stark beeinflussen. Ein Unternehmen mit einer erfolgreichen Produkteinführung könnte sich zu sehr auf diesen Erfolg stützen. Dadurch könnte es bei der nächsten strategischen Entscheidung neue Chancen übersehen. Ebenso könnten wichtige Risiken nicht erkannt werden.
Ein weiteres Beispiel ist die Risikowahrnehmung. Manager, die bei einer früheren Expansion hohe Gewinne erzielt haben, könnten bei zukünftigen Expansionen weniger risikoscheu sein, basierend auf dem Anker dieser positiven Erfahrung. Umgekehrt kann eine schlechte Erfahrung in der Vergangenheit als negativer Anker wirken und künftige Entscheidungen hemmen.
Die Auswirkungen des Ankereffekts auf die Unternehmensführung
Der Ankereffekt kann nicht nur als ein Instrument zur Beeinflussung von Entscheidungsprozessen genutzt werden, sondern birgt auch Risiken. Wenn Entscheidungsträger sich zu sehr auf einen ersten Anker verlassen, bleibt ihre Sichtweise oft starr. Sie berücksichtigen andere Perspektiven nicht mehr ausreichend. Das kann die Flexibilität und Anpassungsfähigkeit einschränken. Dies kann insbesondere in dynamischen Märkten problematisch werden, in denen schnelle Anpassungsfähigkeit und die Berücksichtigung neuer Informationen entscheidend sind.
Ein Risiko des Ankereffekts ist, dass er zu einer Überbewertung des ersten Eindrucks führen kann. Wenn beispielsweise ein Unternehmen einen hohen Preis als Referenzwert setzt, können die Entscheidungsträger in einer Verhandlung zu stark auf diesem Preis beharren und nicht genug auf Marktveränderungen oder die tatsächlichen Bedürfnisse der Kunden eingehen.
Der Ankereffekt kann auch die Innovationsfähigkeit eines Unternehmens beeinträchtigen. Wenn Unternehmen oder Manager zu sehr auf alte Erfolge setzen, kann das neue Ideen blockieren. Es entsteht eine Verzögerung bei Fortschritten. Neue Entwicklungen werden dadurch gehemmt. Dies kann insbesondere dann problematisch sein, wenn der Markt sich verändert und das Unternehmen nicht schnell genug reagiert.