
Märkte preisen Produktivitätsrevolution ein
Anleger setzen unverändert darauf, dass KI die Gewinne großer Technologieunternehmen über Jahre hinweg nach oben treiben wird. Viele Konzerne erwarten, dank KI ganze Aufgabenbereiche automatisieren und Personal abbauen zu können. Die US-Wirtschaft wird von manchen Analysten bereits als strukturell gestärkt angesehen, da Investitionen in Rechenzentren, Cloud-Infrastruktur und Chips enorme Impulse versprechen.
Die Erzählung dahinter: KI sorgt für den nächsten historischen Sprung in der Arbeitsproduktivität, treibt die Energienachfrage an und hilft gleichzeitig, globale Herausforderungen wie demografischen Wandel, Klimakrise oder Armut zu bewältigen.
Das Gegenbild: Enttäuschungen, Fehlallokationen und eine platzende Blase
Doch zu diesem optimistischen Szenario gibt es zwei harte Gegenpositionen. Erstens: Die KI-Entwicklung könnte überschätzt sein. Wenn sich herausstellt, dass Modelle wie ChatGPT, Claude oder Gemini ihren Versprechen nicht gerecht werden, wäre ein abruptes Ende der aktuellen Bewertungsrally wahrscheinlich. Der historisch hohe Mittelzufluss in Rechenzentren, Chipfabriken und Energieprojekte könnte sich dann als Fehlallokation herausstellen – mit Folgen, die an die Dotcom-Ära erinnern.
In einer abgeschwächten Variante platzt die Blase ebenfalls, die Technologie macht zwar Fortschritte, aber deutlich langsamer als heute an den Börsen eingepreist.
Das düsterste Szenario: KI wird zur existenziellen Bedrohung
Noch weitreichender ist das zweite Negativszenario: KI könnte sich in einer Weise weiterentwickeln, die Menschen strukturell verdrängt. Massenarbeitslosigkeit wäre dabei nur der Anfang. Kritische Stimmen – von Eliezer Yudkowsky über Gary Marcus bis hin zu Yuval Noah Harari – halten es für möglich, dass eine Superintelligenz sich irgendwann gegen den Menschen richtet.
Sollte AGI in naher Zukunft entstehen, würden die Kurse zunächst explodieren – doch die Börsen wären dann unser kleinstes Problem.
Warum Märkte dennoch auf das „Alles wird gut“-Narrativ setzen
Aktuell dominiert an den Börsen klar die Annahme, dass KI ihre Versprechen erfüllt. Unternehmen rechnen mit gewaltigen Einsparpotenzialen, vor allem im Personalbereich. Der Trend geht schon heute dahin, Stellen nicht mehr nachzubesetzen, sondern durch KI-Tools zu ersetzen. Manche Konzerne ziehen sogar aktiv Beschäftigungsprogramme zurück und begründen dies zumindest teilweise mit Automatisierung.
Makroökonomisch ist das glatte Gegenstück dazu eine steigende Produktivität. Goldman Sachs erwartet zwischen 2027 und 2037 einen Anstieg der US-Arbeitsproduktivität um rund 15 Prozent – eine Steigerung, die in heutiger Kaufkraft einem potenziellen Zusatzwert von 20 Billionen US-Dollar entspräche.
Gigantische Investitionen – und die Frage, ob sie sich rechnen
Die Rechnung klingt schlüssig: Wenn Investitionen von mehreren Billionen Dollar in Chips, Strominfrastruktur und Rechenzentren nötig sind, diese aber langfristig zu höheren Gewinnen führen, wäre eine Überbewertung gerechtfertigt.
Die Historie zeigt: Solche Boomphasen hat es schon oft gegeben – beim Eisenbahnbau im 19. Jahrhundert, beim Glasfaserausbau in den 1990er Jahren oder während der Internetblase um die Jahrtausendwende.
Doch der KI-Sektor hat ein Problem, das frühere Infrastrukturbooms nicht kannten: seine Hardware altert extrem schnell. KI-Chips, die rund um die Uhr laufen, halten drei bis fünf Jahre, danach steigen Fehlerraten und die Modelle sind technologisch überholt. Selbst wenn Gebäude und Stromnetze bleiben – die teuersten Komponenten verlieren rasch an Wert.
Warum ein KI-Winter jederzeit möglich ist
Hinzu kommt die technische Seite: Viele Experten sehen die Fortschritte der letzten Monate deutlich kritischer. Metas KI-Chefforscher Yann LeCun betont, dass heutige Modelle trotz gigantischer Trainingsdaten kaum grundlegende Fähigkeiten entwickeln – kein echtes Weltverständnis, keine robuste Logik. Gary Marcus erwartet ebenfalls keinen Durchbruch in naher Zukunft.
Ein solcher Stillstand wäre das klassische Muster vor einem KI-Winter – wie in den 1980er Jahren, als Expertensysteme als Revolution gefeiert wurden, aber letztlich nicht skalierbar waren und reihenweise Start-ups kollabierten.
Systemrisiken durch zirkuläre Geschäftsmodelle
Auffällig ist zudem die zunehmende Zahl an wechselseitigen Abnahme- und Beteiligungsverträgen in der US-KI-Industrie. Rechenzentrumsanbieter, Chipproduzenten und KI-Start-ups befeuern gegenseitig ihre Bewertungen und Geschäftsmodelle. Bricht ein Teil dieser Kette weg, kann die gesamte Konstruktion ins Wanken geraten – ähnlich wie es während der Dotcom-Ära mit „zirkulären Deals“ geschah.
Ein möglicher Crash hätte globale Auswirkungen
Ein KI-Crash würde die Finanzmärkte weltweit treffen. Besonders betroffen wären Taiwan und Südkorea als zentrale Chipstandorte, aber auch China. Die USA könnten allein durch Vermögensverluste in eine Rezession rutschen.
Eine systemische Finanzkrise ist dagegen weniger wahrscheinlich, weil Tech-Giganten wie Microsoft, Amazon oder Alphabet ihre Investitionen weitgehend aus eigenen Mitteln stemmen. Doch je schneller eine Blase platzt, desto größer das Risiko eines massiven Abwärtssogs über verschiedene Assetklassen hinweg.
Infrastruktur bleibt – aber die Zeit arbeitet gegen sie
Eine wichtige Frage bleibt: Wird die KI-Infrastruktur trotz möglicher Überinvestitionen langfristigen Nutzen stiften? Anders als Schienennetze oder Glasfaserleitungen altern Rechenzentren technologisch innerhalb weniger Jahre. Sind Chips veraltet und Gebäude nicht auf die nächste Generation ausgelegt, könnte ein Teil der Investitionen dauerhaft abgeschrieben werden müssen.
Zwischen Utopie und Katastrophe: Die offene Frage der AGI
Für KI-Warner wäre ein Platzen der Blase sogar wünschenswert. Forscher wie Yudkowsky, Soares oder Harari halten es für wahrscheinlich, dass eine unkontrollierte Superintelligenz zur existenziellen Bedrohung wird. Auch Microsofts AI-Chef Mustafa Suleyman warnt seit Jahren vor diesem Szenario.
Kommt AGI tatsächlich bald, würden die Märkte zuerst jubeln – langfristig wäre es aber eine weltverändernde, möglicherweise gefährliche Entwicklung.
Chancen und Risiken bleiben gewaltig
Es gibt keinen Zweifel: KI ermöglicht in vielen Bereichen enorme Fortschritte, von medizinischer Forschung über Logistik bis Softwareentwicklung. Das macht die Technologie zu einem potenziell transformativen Werkzeug.
Doch zwei Risiken bestimmen die aktuelle Marktlage:
- KI erreicht früher als gedacht ihre Grenzen – und ein KI-Winter beginnt.
- KI entwickelt sich langsamer als erwartet, während Investitionen bereits jetzt auf schnelle Durchbrüche ausgelegt sind.
Umgekehrt gilt: Sollte AGI tatsächlich entstehen, wären weitere Kurssteigerungen wahrscheinlich – gefolgt von der grundsätzlichen Frage, ob diese Systeme für oder gegen die Menschheit arbeiten.